Zwei Quadratmeter, weiße Fliesen, und bestenfalls Zitrusfrische. Wer verbringt in so einem Raum mehr Zeit als nötig? Das Klo als sicheres Örtchen, wenn zu Hause dicke Luft herrscht? Was wie ein schlechter Scherz klingt, ist das Ergebnis einer ernsthaften Studie: Briten verbringen im Durchschnitt sieben Stunden pro Jahr auf der Toilette, um Ruhe und Frieden zu finden. Mein erster Gedanke: Braucht man für diese Weisheit wirklich eine Studie? Mein zweiter: Was macht die Toilette so attraktiv? Zugegeben, dort kann man tun und lassen was man will, sie ist von innen verschließbar und somit geschützt. Sie ist in jedem Haus vorhanden und keiner muss sich erklären, wenn er dorthin verschwindet. Das klingt nach einem idealen sicheren Ort.
Spaß bei Seite, die Studie zeigt für mich eines: Es braucht Plätze, die Auszeiten ermöglichen und Sicherheit in unsicheren Zeiten bieten. Das kann heißen an reale „Kraftorte“ zu gehen. Nach einem anstrengender Bürotag zieht es uns magisch in die Natur, an diesen einen besonderen Fleck. Wichtig ist jedoch, dass wir Sicherheit und Geborgenheit in uns entstehen lassen können, wenn wir sie brauchen. Zum Beispiel vor einer Prüfung, wenn wir die Hosen voll haben; im Bus, wenn wir mit der Platzangst kämpfen; oder wenn wir kurz vor einer Panikattacke im Supermarkt stehen. Die gute Nachricht: Wir können sichere Orte in uns wachsen lassen, die uns immer und überall begleiten.
In der folgenden Szene lernen wir Mehmet kennen. Er kommt aus einer Familie, in der Gewalt kein Tabu gewesen ist. Er hat als Bursche immer wieder traumatische Szenen erlebt. Jetzt hat er oft Panik und kann nirgends Sicherheit empfinden. Er hat eigentlich gar nicht gewusst, was das sein soll: Sicherheit. Erst in der Psychotherapie hat er für sich einen sicheren Ort und die damit verbundenen Empfindungen und Gefühle entwickelt. Das hat nicht sofort beim ersten Mal geklappt. Im Laufe der Psychotherapie ist ihm die Reise dorthin aber immer besser gelungen. Mehmet sitzt bequem im Sessel und erzählt.
„Ich murmle die drei geheimen Wörter und bin da. Ich sitze ausgestreckt auf einem flachen Stein mitten in meinem Laubwald. Der Stein ist flach, grau, und von Wasser und Zeit weich geschliffen – die Oberfläche fühlt sich wie Samt an. Das Licht fällt durch die Baumwipfel und berührt meine Stirn. Neben mir wärmt sich eine Blindschleiche in der Sonne, sie scheint es mir nachzumachen. Hier duftet es nach feuchtem Moos und morschem Holz, direkt neben mir nach wilder Minze. Ich pflücke ein kleines Stück und stecke es zwischen meine Lippen. Eine leichte Kühle und milde Schärfe breiten sich in meinem Mund aus. Meine Augen ruhen auf einer Stelle im Bach vor mir. Geschützt hinter einem Felsen kommt das Wasser hier zur Ruhe. Hin und wieder löse ich meinen Blick, um mich neugierig umzusehen. Einige Steinpilze haben sich diesen Ort zum Wachsen ausgesucht. Sie wirken mit ihren dicken Kappen wie gesellige Zwerge. Der Wald hat ein sattes Grün, immer wieder Stellen von Gelb und Braun. Die Bewegung darin erinnert an das Flackern des Lagerfeuers, der Wind ist auch hier Dirigent. Einige Meter über mir klopft ein Specht unaufgeregt an einem dicken Stamm. Gerade so als wüsste er, dass der Winter noch weit weg ist. Das Wasserplätschern, das Blätterrauschen, das Spechtklopfen – das alles verbindet sich zu einem Wiegenlied.
Eine angenehme Schwere steigt vom Boden in mir auf. Ich weiß ich bin in Sicherheit – der Wald hält alles hier was guttut, alles fern was ich nicht brauchen kann. Einer Dornröschenhecke gleich: Je dünner meine eigene Haut, desto dichter wird der Wald um mich. Mein Körper entspannt sich, atmet tief und ruhig. Die Füße und Hände finden Entspannung, die Schultern hängen wie Zelte an meinem Rumpf. Der Kopf ist voll frischer Luft und Gedanken. Ich bin froh hier zu sein – dieser Ort gehört mir und wartet auf mich, jederzeit. Ich bin sicher.“
Mit allen Sinnen
Mehmets Erzählung ist keine Aufzählung nüchterner Fakten. Er taucht mit allen Sinnen in seinen sicheren Ort ein. Da gibt es einiges zu sehen, hören, riechen, spüren und zu schmecken. Je intensiver ihm das gelingt, umso lebendiger und erlebbarer wird die Sicherheit für ihn. Genau darum geht es – Empfindungen und Gefühle wahrwerden zu lassen. Langsam merkt er: Sicherheit ist die Lockerheit in seinen Schultern, das wohlige Empfinden in seinem Bauch und die Klarheit in seinem Kopf. Schnell stellen sich zugehörige Gefühle und Gedanken ein: Freude, Vertrauen und Zuversicht bleiben keine hohlen Phrasen.
Erlaubt ist, was guttut
Mehmet kann sich an seinem sicheren Ort völlig sicher und geborgen fühlen. Es gilt die Regel: Es gibt keine Regeln. Erlaubt ist, was guttut. Für Mehmet ist es ein ruhiger Platz in einem Laubwald. Es ist vielleicht ein Wald, den er wirklich kennt. Es könnte aber auch eine bessere Version davon sein, oder Mehmet hat ihn aus seiner Fantasie erschaffen.
„Seien Sie nicht zimperlich mit Ihren Wünschen!“
Wälder sind für Sie keine beruhigende Vorstellung? Vielleicht ist es für Sie ein Stern in einer fernen Galaxie, eine Höhle am höchsten Berg der Welt, oder eine einsame Insel mitten im Südpazifik. Sind Sie im Gedanken schon an Ihrem sicheren Ort? Seien Sie nicht zimperlich mit Ihren Wünschen! Machen Sie Veränderungen bis sie komplett zufrieden sind!
Grenzen setzen und sichern
Sichere Orte sind kostbar und Kostbares müssen Sie schützen. Das kann heißen ihn vor anderen gut zu verstecken oder schwer erreichbar zu machen. Vielleicht braucht man einige Zauberwörter, eine Rakete, oder einen fliegenden Teppich, um zu Ihrem zu gelangen? Dort angelangt stellt sich die Frage, wie man sich vor Übergriffen schützt. Mehmet lässt seinen Laubwald so dicht werden, als wären es die Ranken einer Dornröschenhecke. Es kann aber auch eine dicke Mauer, ein Feuerwall oder eine unsichtbare Glaskuppel sein. Wichtig ist: Die Grenze darf von anderen nur überschritten werden, wenn Sie eine Einladung aussprechen. Seien Sie wählerisch und laden Sie nur wohlwollende Wesen ein: gute Feen, weise Zwerge oder andere fürsorgliche Fantasiefiguren.
„Sichere Orte sind kostbar und Kostbares müssen Sie schützen.“
Wo ist ihr sicherer Ort? Was können Sie dort mit Ihren Sinnen erleben? Was empfinden und fühlen Sie dort? Wie zeigt sich die Sicherheit und Geborgenheit bei Ihnen? Fällt es Ihnen schwer so einen Platz für sich zu finden? Im Psychodrama müssen diese Orte nicht nur in der Vorstellung entstehen, sondern können auch auf der Bühne Form annehmen. Die bloße Vorstellung weicht dem Erleben.
Die Bäume werden mit grünen Tüchern dargestellt, die Pilze mit kleinen Bällen. Die verschiedenen Elemente finden im Raum ihren Platz: Wichtiges bekommt viel Raum, Unwichtiges wird in den Hintergrund gerückt. Mit einem Seil werden real Grenzen gezogen – manchmal ist das bereits eine neue Erfahrung. Das Spielen bzw. therapeutische Arbeiten auf der Bühne trägt dazu bei, Dinge sprichwörtlich besser zu begreifen und Sie können aktiv Ihre Bedürfnisse umsetzen. Falls Sie möchten, können wir uns gemeinsam auf die Suche machen. Auch wenn es etwas dauern sollte – wir werden ihn finden, Ihren sicheren Ort.
Zum Weiterlesen:
Rost, C., & Overkamp, B. (2018). Selbsthilfe bei posttraumatischen Symptomen: Übungen für Körper, Geist und Seele. Paderborn: Junfermann.